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Sicherheit ist sein Job

8. Dezember 2022


Arbeiten im Freeride Mekka Engelberg

Sie sorgen jeden Tag für die Sicherheit von Wintersportlern – der eine für rund 8 Gäste am Tag im ungesicherten Raum mit allen alpinen Gefahren, der andere für bis zu 8000 Menschen auf gesicherten Pisten. Die Rede ist von Ski- und Bergführer Christian Räss von den „Engelberg Mountain Guides“ sowie von Christoph Bissig, seit 20 Jahren Leiter des Pisten- und Rettungsdienstes Titlis.

Je einen Tag lang begleitete Eliane Droemer die beiden Schweizer, die Sicherheit als Dienstleistung in einem Raum anbieten, in dem es keine hundertprozentige Sicherheit gibt – auch wenn Engel als Namensgeber des Ortes mit ihren Stimmen aus den Bergen schon vor über 900 Jahren zur Gründung der Abtei Engelberg geführt haben sollen. Himmlisch ist auf jeden Fall das Angebot an Variantenabfahrten rund um den mächtigen Berg Titlis, der Freeridefans aus aller Welt anzieht.

Big 5 und High 5

Warum Engelberg für seine Off-Piste Qualitäten bekannt ist, wird schon klar, wenn man mit der ersten Gondel ab Tal Richtung Trübsee fährt. In Begleitung von Christoph Bissig haben wir das Privileg, um 7 Uhr morgens bereits die Dienstfahrt nutzen zu dürfen. Ein später Arbeitsbeginn für den Pisten- und Rettungschef, der bei Neuschnee in der Nacht eher ab 4 Uhr auf den Beinen ist, um mit seinem Team Sprengungen vorzunehmen. Die vor Betriebsöffnung kontrolliert ausgelösten Lawinen können dann nicht mehr die Skipisten gefährden.

Ich schaue mit leuchtenden Augen aus der Gondel linker Hand auf einen besonders breiten und langen Hang mit einem traumhaft gleichmäßigen Gefälle von bis zu 40 Grad. „Das ist das Laub, eines der Big 5“, erläutert Bissig. Big 5 sind fünf Freeride-Sahnestücke in Engelberg, die alle ohne Aufstieg direkt ab Lift erreichbar sind und außergewöhnliche lange Abfahrten von bis zu 2000 Höhenmetern bieten. „Laub“ bedeutet übrigens „Lawine“, wie wir einen Tag später von Christian erfahren. Ausgewiesene Freeride Routen zu nutzen heißt nicht, die Verantwortung abzugeben. Hier sind alpine Gefahren ebenso zu respektieren wie die Wildruhezonen.

High 5 hingegen sind die Leckerbissen für Tourengeher ab Skigebiet Engelberg wie u.a. der alpine Klassiker „Titlis Rundtour“, der mit Kletterpassagen, Abseilen und langen Abfahrten während der siebenstündigen Tour ein Highlight darstellt, für das man mit einem Bergführer gut beraten ist.

Trotz der besonderen Herausforderungen, denen sich ein Skigebiet stellt, wenn es Freerider und Tourengeher willkommen heißt, hält Engelberg an der Klientel fest – was mit dem Gletschergebiet Titlis besonders delikat ist. An alpinen Gefahren mangelt es nicht. Neben den Lawinen mahnen auch Gletscherspalten und sehr felsiges, steiles Gelände zur Vorsicht.

Der Mensch, die Gruppe

Bei allen alpinen Gefahren – die Komponente Mensch ist für beide ein äußerst wichtiger Faktor- für den Pistenchef ebenso wie für den Bergführer. Christoph Bissig geht so weit zu sagen: „Wer den Job macht, muss die Menschen gern haben“. Was er damit meint, wird deutlich, wenn er von Unfallhergängen erzählt oder auch wenn man die Bergstation Klein Titlis auf 3028 Metern Höhe verlässt wo kurz vor dem Corona Lockdown im März 2020 Rummel herrscht. Mit einem Blick über die Schulter grinst er: „Stell Dir das im Juni vor mit rund 4000 Indern.“ Indern? Allerdings, bestätigt Marketingleiterin Katrin Benz, Engelberg sei sehr international aufgestellt. Neben den Freeridefans aus Europa, Skandinavien und den USA kommen im Frühsommer Gruppenreisen aus Indien und anderen asiatischen Ländern, für die die Berge als Fotomotiv schon ein Erlebnis an sich ist. Dass dieses Jahr alles anders sein würde, wussten wir zu dem Zeitpunkt noch nicht.

Risiko minimieren

Einen Tag nach der Skigebietsführung mit Christoph Bissig sind wir mit Bergführer Christian Räss unterwegs. Für Christian Räss, der 15 Jahre Erfahrung als Bergführer vorweisen kann, sind die Gäste ein wichtiges Element seiner Tourenplanung: „Wir werden gebucht, um das Sicherheitsrisiko zu übernehmen, natürlich auch um schöne Lines, am besten mit Powder zu bekommen, aber zunächst mal vertraut sich ein Gast uns an.“ Als wir gemeinsam über die Gebietskarte gebeugt die Abfahrten planen, gibt er uns einen Einblick in seine Strategie: „Von drei Faktoren darf nur einer orange sein, also nicht optimal, um eine Tour wie geplant fortzuführen: Schneebedingungen, Wetterbedingungen samt Sicht und – die Gruppe.“ An dem Tag herrscht Lawinenwarnstufe 2, alle in der Gruppe sind fit und halten sich an die Regeln des Guides aber die Sicht ist gleich Null – also zweimal grünes Licht, einmal orange. „Wenn sich jetzt noch durch Schneefall die Lawinensituation verschlechtert oder einer von Euch in keiner guten Verfassung ist, dann wäre Off-Piste fahren nicht mehr möglich.“ So aber wagen wir doch mit kleinen Abständen auf Sicht von rund 10 Metern die Abfahrt im Gelände. Geschickt führt Christian uns mit Hilfe erkennbarer Felswände – die einzigen Konturen in dem Whiteout – und genauen Anweisungen. Hier ist Vertrauen und Aufmerksamkeit gefragt.

Büro über den Wolken

Tags zuvor tauscht Bissig an der Mittelstation seine Skier mal eben gegen sein zweites Paar, das hier auf ihn wartet, grüßt hier und da die Mitarbeiter, alle lächeln freundlich zurück. Der 60-jährige Schweizer ist von klein auf mit dem Thema Ski verbunden. Sein Vater betrieb einen Lift im Nachbartal von Engelberg und bereits mit 21 Jahren zog es Bissig als Skilehrer nach Neuseeland. Jetzt, kurz vor dem Renteneintritt, ist seine Erfahrung spürbar.

Mit seiner ruhigen, konzentrierten Art erklärt er, dass sein Team von bis zu 8 Patrolleuren bereits unterwegs ist und alle Pisten abfährt. Vor Öffnung des Skigebietes werden die gewalzten Pisten gecheckt ob gefährliche Unebenheiten geblieben sind. Zudem werden Beschilderung, Netze und Absperrungen überprüft. Immer wenn eine Piste fertig kontrolliert wurde, gibt der Patrolleur der Zentrale Bescheid, und erst wenn das ganze markierte Gebiet mit allen Pisten und Zusatzangeboten wie Geschwindigkeits-Messtrecke freigegeben wurden, dürfen die ersten Gäste hochfahren.

Der Ablauf eines Arbeitstages für den Pisten- und Rettungsdienst:

  1. Sprengungen wenn erforderlich.
  2. Die Patrolleure kontrollieren alle Pisten und Zusatzangebote.
  3. Sie geben diese nach und nach frei.
  4. Die Lawinengefahr wird an die Gäste kommuniziert: Das Bulletin wird aufgehängt und im Internet aktualisiert und ab Stufe 3 leuchten die Warnblinker an den Hinweisschildern. Offpiste gibt es keine speziellen Markierungen.
  5. Bei der Station Trübsee wird täglich die Schneehöhe gemessen, das Gewicht des Schnees und weitere Daten erfasst. Dafür werden auch immer wieder Schneeprofile gegraben. Das Team fungiert als Beobachter für das SLF Davos und liefert wertvolle Daten für die Erstellung des Bulletins – in Deutschland bekannt als Lawinenlagebericht.
  6. Nach vollständiger Kontrolle wird das Skigebiet geöffnet, die ersten Gäste dürfen hochfahren.
  7. Die Patrolleure erstellen einen Raport und notieren, was ihnen aufgefallen ist.
  8. Die Rettungs- und Transportausrüstung wird geprüft und vorbereitet.

facts Engelberg

  • 35 Mitarbeiter gehören zum Pisten- und Rettungsdienstes Titlis, u.a. Patrolleure, Beschneiungsteam, Pistenpräparation samt Mechaniker
  • Fast 24 Stunden lang, rund um die Uhr sind sie zusammen im Einsatz, um
  • 82 Pistenkilometer im Skigebiet Titlis zu sichern und zu präparieren
  • 250 CHF kostet eine Raupenstunde, das macht
  • Über 15.000 CHF pro Schicht Präparation mit 8 Maschinen über 8 Stunden für einen Skitag

90 Sekunden

Natürlich ist das Thema Sprengungen besonders spannend und so nimmt Christoph Bissig uns mit in den kleinen Bunker an einer der Mittelstationen, wo der Sprengstoff gelagert ist. Er erklärt, dass auf drei Arten gesprengt wird:

  1. Per Fernauslösung aus fest installierten Lanzen
  2. Aus dem Hubschrauber
  3. Aus der Hand vor Ort

Der Bunker gleicht einem Hochsicherheitstrakt samt eingeschlossenem Schlüssel und Spezialschloss, dass man nur mit Insiderwissen öffnen kann. Christoph holt aus dem hinteren Lager einen Rucksack, den Sprengstoff und – die Zündschnur. Sie ist das eigentlich Gefährliche und muss immer getrennt gelagert werden. Er treibt einen Schraubendreher in den Sprengstoff und steckt die Schnur hinein. Die Vorrichtung wird später im Gelände auf einen Stock gesteckt, damit über der Schneedecke gesprengt werden kann. Das Brisante: Hat man einmal die Zündschnur angezündet, bleiben 90 Sekunden, um per Ski wieder weit genug weg in Sicherheit zu fahren. Wenn in dem Moment aus Versehen der Skistock stecken bliebe oder etwas an der Bindung sei, wäre das fatal, so Bissig. Er spricht aus trauriger Erfahrung, denn er hat einen Freund bei solch einer Sprengung verloren. Bei Sprengarbeiten müssen immer zwei dabei sein.

Wehe bei Wechten

Wechten sind nicht nur Offpiste eine Gefahr sondern auch für den „gesicherten Pistenbereich“. Im Backcountry jedoch ist man auf die eigene Erfahrung angewiesen. Wenn man von der Luv-Seite kommt, ist eine Wechte nicht leicht erkennbar. Betritt man sie unbewusst, kann sie abbrechen und einen mitreißen. Guides wissen, wo solche Wechten sind und sind auch hier ein guter Ratgeber. An unserem Freeride Tag mit Christian hätten wir bei der schlechten Sicht keine Chance, eine Wechte zu erkennen und so sind wir heilfroh, dass er selbst in dem konturlosen Weiss selbstsicher den Weg findet.

Der Gefahr für Pisten wird durch Sprengung von riskanten Wechten vorgebeugt. Trotzdem passieren Unfälle, die auch das kompetente Team des Pisten- und Rettungsdienstes nicht verhindern kann, wenn Gäste die Warnhinweise nicht ernst nehmen. Etwa als ein weiblicher Gast am Titlis über eine Absperrung ging, um unwissend auf einer Wechte einen Schnee-Engel zu machen. Besonders tragisch: Die Wechte brach und stürzte mit ihr ins Tal, wobei ein Teil des „Flügels“ oben im Schnee erhalten blieb. Insgesamt sind die nicht natürlichen Todesfälle jedoch kontinuierlich zurückgegangen.

Für das Skigebiet selbst kann Entwarnung gegeben werden. Riskante Wechten werden vor Öffnung des Gebietes gesprengt. Denn würde eine Wechte unkontrolliert mit ihrem hohen Gewicht auf die Schneedecke fallen, könnte sie eine Lawine auslösen, die bis ins Skigebiet reicht. Dem wird durch die kontrollierte Sprengung vorgebeugt.

Was kann ich tun, als Pistenfahrer, als Freerider

Schon gewusst? Skigebietsbetreiber und -gäste gehen einen Vertrag ein. Das heißt, als Gast habe ich auch Pflichten. Dazu gehört die Einhaltung der international geltenden FIS-Regeln als Verhaltenskodex – ja genau, die 10 Regen, die in Comic-Form selbst am abgelegensten „Babylift“ hängen, schreiben wie die StVO im Straßenverkehr eine Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme vor. Sie enthalten zum Beispiel Regeln zur Vorfahrt und zum Überholen. Wer sich nicht daran hält, haftet bei einer Kollision sehr wahrscheinlich auf Schadensersatz und Schmerzensgeld.

Die Betreiber von Skipisten haben eine sogenannte Pistensicherungspflicht, damit jeder die Pisten möglichst gefahrlos nutzen kann. Dazu gehört das Pistenleitsystem, das Christoph Bissig und sein Team mit Markierungen, Netzen oder Langsam-Fahrzonen bei Engstellen „entschärfen“.

Verlasse ich den gesicherten Pistenraum – auch wenn ich zwischen markierten Pisten fahre – gilt das gesamte Einmaleins des eigenverantwortlichen Risiko-Checks hinsichtlich Lawinen und weiterer alpiner Gefahren. Stichworte: Tourplanung, Lawinenlagebericht, gesamte LVS-Ausrüstung und -skills.

Notruf

Der schnellste Notruf gestaltet sich in jedem Land anders. Wer in der Schweiz unterwegs ist, kann mit der REGA App einen Notruf absetzen, bei dem gleich die Koordinaten gesendet werden. REGA ist die Schweizerische Rettungsflugwacht. In den Bergen bei eindeutig lebensbedrohender Situation sei die 1414 für die Luftrettung empfohlen. Entscheidend, ob die Luftrettung erforderlich ist oder nicht: Wenn der Patient nicht schmerzfrei in einen Schlitten gebracht werden kann, bei Verletzungen am Rücken, an der Schulter, den Beinen oder bei Bewusstlosigkeit.

Die 112 alarmiert eher die Ambulanz in den Spitälern, dies dauert etwas länger. Die schnellste Nummer im Skigebiet Titlis ist die der Talstation: hier sind Mitarbeiter, die den Verletzten schnell lokalisieren können unter 
+41 (0)41 639 5061.

Fazit

Sicherheit für Wintersportler – kein leichter Job für den Pisten- und Rettungschef Christoph oder den Bergführer Christian. Und doch machen gerade die Komponenten Risikomanagement, alpine Gefahren, der Mensch, die Gruppe und das Team den Reiz für beide aus, den sie nicht missen wollen. Im alpinen Raum gibt es keine hundertprozentige Sicherheit. Rücksicht und Achtsamkeit sind gefragt. Und in Begleitung von solch kompetenten Profis kann man nicht nur viel lernen sondern auch das Potential eines so vielfältigen und herausfordernden Gebietes wie Engelberg Titlis als Freerider und Tourengeher genießen.

http://www.titlis.ch/de

Tipps Engelberg

Anreise

Gute Verbindung mit der Bahn ab Zürich ca. 80 CHF hin und zurück

Übernachtung

Günstige Packages: Beim Tourismusverband nach Übernachtungsangebote inklusive Skipass fragen. www.engelberg.ch

Natürlich freeriden: Do a Big 5

„Big 5“ sind fünf Freeride-Sahnestücke in Engelberg, die alle ohne Aufstieg direkt ab Lift erreichbar sind und außergewöhnliche lange Abfahrten von bis zu 2000 Höhenmetern bieten. Besonders spannend ist der Steinberg vom Klein-Titlis bis zum Trübsee mit seinen imposanten Gletscherbrüchen und dem „Iceflyer Couloir“. Entsprechend empfiehlt sich ein Bergführer als Guide.

Guides: www.engelbergmountainguide.ch/

Schlemmen: Brasserie Konrad @ Ski Lodge
Ob zum Übernachten, dinieren oder relaxen an der Bar bei Live-Auftritten – die Ski Lodge, geführt von schwedischen Skifanatikern, ist DER Treffpunkt im Ort. Besonders lockt die Brasserie Konrad:
Regionale Zutaten, nordische Wurzeln – hier wird man überrascht von raffiniert zubereiteten Speisen in lockerer Atmosphäre.

Kraft tanken: Restaurant Lago Torbido im Berghotel Trübsee
Direkt an der Mittelstation Trübsee kann man hier ganz „unskigebietsmäßig“ stilvoll mit Service und Pizza aus dem Holzofen oder Antipasti genießen.  

Shoppen: Kloster Engelberg

Engelsstimmen aus den Bergen sollen zur Gründung der Abtei Engelberg geführt und dem Ort seinen Namen gegeben haben. Auf jeden Fall prägt das Benediktinerkloster die Geschichte des Tales seit seiner Gründung im Jahr 1120. Und neben der geistigen Nahrung sind die Produkte aus der Schaukäserei zu empfehlen.

Sehenswertes Portrait von Christoph Bissig:

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